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void in solid

Der deutschsprachige Begriff „Raum“ leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort „rûm“ ab. Dieses bedeutet „freier Platz“ oder „das nicht Ausgefüllte“. Die Vorstellung eines Raums bezieht sich epistemologisch also auf die Imagination des „leeren Raums“. Ein solcher leerer Raum wird – sowohl in der assoziativen Logik als auch in der bildlichen Darstellung – erst durch die Abgrenzung von einem anderen materiellen Raum manifestiert beziehungsweise sichtbar. Auf dieser Überlegung aufbauend erscheint der Raum somit als eine primär visuelle Erfahrung.

Bongchull Shin beschäftigt sich mit der Sichtbarmachung von Raum anhand eines Materials, welches im alltäglichen Leben die Trennung zwischen zwei Räumen visuell aufhebt: Glas. In seiner Werkserie void in solid setzt sich der Künstler mit der Darstellung des leeren Raums und seiner architektonischen Manifestation auseinander. Anhand eines äußerst komplizierten Glasschneide-Verfahrens entfernt Shin aus unzähligen Glasplatten eine einheitliche Form. Dabei lässt er jede dieser wie ausgestanzt erscheinenden Formen in Größe oder Platzierung minimal von der vorherigen abweichen. Anschließend stapelt und klebt er die unzähligen Schichten horizontal aufeinander. Auf diese Weise verschiebt und beeinflusst er die Struktur des innenliegenden Hohlraums: Ecken und Kanten entstehen, ein Rhythmus und Formen ergeben sich. Im Inneren eines solchen Glasturms entsteht ein „leerer Raum“. Durch die Verwendung von Glas unter Verzicht auf Verzierungen erinnert diese Werkserie an zeitgenössische Wolkenkratzer-Architektur, bei der sich die teilweise mehrere hundert Meter hohen Großstadttürme durch die Spiegelung der sie umgebenden Umwelt in den großflächigen Glasfassaden von außen betrachtet beinahe selbst aufheben.

Als architektonisches Element trennt Glas in Form des Fensters beziehungsweise der Fassade die äußere und die innere (Erfahrungs-) Welt. Es blockiert dabei alle Sinne außer dem Sehvermögen. So ist zum Beispiel ein mittels einer Glaswand abgetrennter Raum weder anhand von Gerüchen und Geschmäckern noch durch den Tastsinn erfahrbar. Das Auge dagegen kann einen derart abgegrenzten Raum zu großen Teilen erfassen. Das Glas respektive Fenster erscheint quasi unsichtbar, solange das Auge den Raum hinter der Glasfläche fokussiert, also bei der transparenten Void-in-Solid-Skulptur den Innenraum. Konzentriert sich der Rezipierende jedoch nicht auf das Innenleben der Skulpturen, sondern auf eine der Außenflächen, erscheinen je nach Betrachtungswinkel unterschiedlich starke Spiegelungen des eigenen Ichs und der Blick nach innen verschwimmt. So wird das Glas zum Spiegel und wirft Fragen an das schauende Subjekt zurück, welches sich durch den zurückgeworfenen Blick als Voyeur ertappt fühlt.

– Mira Nass –